Jahrzehntelang war Claus Fussek der Ansprechpartner für verzweifelte Pflegebedürftige oder deren Angehörige. Er hat Ratschläge gegeben, zugehört und Schicksale mitgetragen, die ihm noch heute nahegehen. Nun geht er in den Ruhestand – und kann doch nicht loslassen.
Claus Fussek hat es probiert. Wochenlang. Sein Ruhestand rückt näher. Doch das Aussortieren gelingt ihm einfach nicht. Nicht einen Ordner konnte er wegschmeißen. Es sind hunderte, die hier in seinem Büro im Glockenbachviertel in den Regalen stehen. Manchmal hat er das Gefühl, er ist der einzige Mensch auf der Welt, der sich für den Inhalt interessiert.
Es sind abgeheftete Briefe und E-Mails – hunderttausende Hilferufe von verzweifelten Senioren oder deren Angehörigen. Auch Zeitungsartikel stecken in den Ordnern. Und Fotos. Da ist zum Beispiel dieses eine: Es zeigt nur sechs Buchstaben: Fussek – mit Bleistift an eine Wand gekritzelt. Die Frau, die seinen Namen vor vielen Jahren geschrieben hatte, lebte in einem Pflegeheim und litt dort furchtbar. Ihre Angehörigen besuchten sie nicht, ihr einziger Kontakt war Claus Fussek. „Sie hat gehofft, wenn die Pflegekräfte meinen Namen über ihrem Bett lesen, würden sie sie besser behandeln“, erzählt Fussek. Das ist nicht passiert. Die Frau ist in dem Heim gestorben. Fussek kämpft noch heute mit den Emotionen, wenn er von ihr erzählt. „Ich konnte sie nicht beschützen“, sagt er. Dieses Foto wegzuwerfen würde er nie schaffen. Und genauso geht es ihm mit vielen anderen Briefen und Bildern, die er hier aufbewahrt.
Die Geschichte dieser Ordner beginnt bei einer Pressekonferenz im Münchner Rathaus. Es ist 1997. Damals ist Fussek bereits 19 Jahre als Sozialpädagoge bei der Vereinigung Integrationsförderung tätig, die Sozialbenachteiligte unterstützt. Immer wieder hatten sich auch Menschen an ihn gewandt, die mit der Pflege eines Angehörigen überfordert oder die mit der Versorgung in einem Pflegeheim unzufrieden waren. Fussek will sich selbst ein Bild machen. Er besucht einige Heime – und sieht Szenen, die er kaum geglaubt hätte, wären sie ihm geschildert worden. Senioren, die hilflos in ihren Fäkalien liegen, völlig ausgetrocknete Menschen, immer wieder hört er von Bewohnern den Satz, dass sie sterben wollen. Bei der Pressekonferenz deckt der damals 44-Jährige diese Missstände schonungslos auf. Tagelang wird über den Pflegeskandal berichtet. Es dauert nicht lange, bis der Name Claus Fussek bundesweit bekannt ist.
Ich habe mir oft gewünscht, ich würde falsch liegen. Nie kam es zu einer Anzeige oder Gegendarstellung.
Seit diesem Tag ist nichts mehr wie zuvor. Das Telefon in seinem Büro klingelt fast ununterbrochen, sein E-Mail-Postfach läuft voll. „Das war wie ein Tsunami“, erzählt er. Die Hilferufe kommen nicht mehr nur von Pflegebedürftigen und deren Angehörigen. Sondern auch von verzweifelten Pflegekräften, die ihm von unerträglichen Arbeitsbedingungen und menschenunwürdiger Pflege berichten. Claus Fussek hört zu und sagt immer wieder dieselben Sätze: „Verbündet euch! Brecht das Schweigen!“ Doch bis heute wollen die meisten Pflegekräfte anonym bleiben. Auch viele Angehörige trauen sich nicht, Missstände anzuprangern – aus Sorge, dass ihre Mütter oder Väter es in den Heimen büßen müssen.
Fussek wird ihre Stimme. Der Kampf für menschenwürdige Pflege wird sein Lebensthema. Gesucht hat er es sich nicht. Er war nur der Mann, der sich traute, Missstände auszusprechen, die ihm andere schilderten. Der Kreis der Anrufer wird immer größer. „Auch Ärzte, Notärzte und Bestatter meldeten sich“, erzählt er. „Alle bestätigten, dass es diese Missstände gibt.“ Alle hatten bisher geschwiegen.
Immer wieder hat Fussek diese Momente, in denen er denkt, er täusche sich, er übertreibe. „Ich habe mir oft gewünscht, ich würde falsch liegen.“ Doch nie kam es zu einer Anzeige oder zu einer Gegendarstellung, sagt er. Seine Worte waren unbequem, übertrieben waren sie nicht. Trotzdem bleiben sie ohne Konsequenzen.
Jedes Mal, wenn er über die Schicksale vieler Menschen in Pflegeheimen berichtet, kommt danach eine neue Flut von Anrufen und Briefen. Und immer wieder sind auch Drohungen oder Beschimpfungen dabei. Wie unbeliebt er sich gemacht hat, spürt er das erste Mal 1998, bei einer Veranstaltung eines Münchner Pflegeheims. Er wurde eingeladen. „Auf einmal war der Scheinwerfer auf mich gerichtet und ich wurde offen dafür angegriffen, dass ich auf die Missstände hingewiesen hatte“, erzählt er. Solche Momente lassen ihn nicht kalt. Auch die Todesdrohungen nicht, die hin und wieder in der Post waren. Aber die Hilferufe gingen ihm immer näher als die Anfeindungen.
„Ich wollte kein Feigling sein“, sagt er rückblickend. Aber ein Einzelkämpfer war er. Und oft hat er sich gefragt, wer eigentlich sein Gegner ist. „Es kann doch niemand ernsthaft gegen gute Pflege sein“, sagt er. „Es geht doch um die Schicksalsfrage unserer Gesellschaft.“ Das ist einer der Sätze, die Claus Fussek in seinem Leben sehr oft gesagt hat. Er passt heute noch wie vor 40 Jahren – denn die Situation hat sich seit damals nicht wirklich verändert.
Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, in all den Jahren nie abzustumpfen.
Das treibt ihn um. Oft liegt er nachts wach und denkt an die Lebensgeschichten vieler alter Menschen, die grausam und würdelos in einem Pflegeheim zu Ende gehen. Viele dieser Menschen sind längst gestorben. Aber nicht für Claus Fussek. Ihre Schicksale begleiten ihn. „Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, in all diesen Jahren nie abzustumpfen“, sagt er. Aber weil das so ist, kämpft er nun seit Monaten so vergeblich damit, sein Büro leer zu räumen. Das viele Papier, das er hier abgeheftet hat, ist für ihn mehr als Papier. Es sind Schicksale, die er mitgetragen hat.
Da ist zum Beispiel der 94-Jährige, der ihm einen Brief aus einem Pflegeheim schrieb. Fussek besuchte den Mann. Wenn er von der Begegnung berichtet, muss er noch heute gegen Tränen ankämpfen. „Es stank unglaublich in dem Zimmer“, erzählt er. Ein Essenstablett war auf der Toilette abgestellt. „Er sagte mir, er wünschte, er wäre dement und würde das alles nicht mehr mitkriegen.“ Dann zog er seinen Ärmel hoch. Auf dem Arm war eine KZ-Häftlingsnummer eintätowiert. „Ich dachte, ich hätte das Schlimmste in meinem Leben hinter mir“, sagte er. Einer der wenigen Momente, in denen Claus Fussek die Worte fehlten.
Wie soll man solche Begegnungen vergessen? Wie kann man in den Ruhestand gehen, wenn man weiß, dass niemand nachfolgt, der für die Schwächsten die Stimme erhebt? Claus Fussek wird in wenigen Tagen 69. Leicht fällt ihm der Abschied vom Berufsleben nicht. 44 Jahre hat er für die Vereinigung Integrationsförderung gearbeitet und für die Hilflosen gekämpft. „Ich weiß nicht, wie mein Ruhestand aussehen wird“, sagt er nachdenklich. Es werden weiterhin Hilferufe kommen. Vielleicht nicht mehr so viele. Doch der Inhalt wird derselbe sein wie seit so vielen Jahren. Es macht ihn traurig, dass sich so wenig geändert hat. „Schliersee ist nur ein Beispiel“, sagt er. Das Seniorenheim, das immer wieder wegen Pflegeskandalen Schlagzeilen machte, hat ihn durch sein halbes Berufsleben begleitet. Vor Kurzem wurde es zwar geschlossen – doch viele Bewohner wurden nur in ein Heim desselben Trägers verlegt.
Natürlich ist es nicht so, dass Claus Fussek nichts bewirkt hätte. Er hat 2002 den Pflege-Stammtisch eingeführt, zu den monatlichen Treffen in vielen bayerischen Städten kamen von Mal zu Mal immer mehr Menschen. Er hat es geschafft, das Thema Pflege immer wieder auf den Tisch zu bringen. Er hat dazu beigetragen, dass die Heimkontrollen heute unangekündigt sind. Und vor allem war er für die Verzweifelten jahrelang die einzige Anlaufstelle. „Er hat viel erreicht – und trotzdem Angst, nicht genug für die Menschen gemacht zu haben“, sagt Ute Fussek. Die beiden sind seit 34 Jahren verheiratet. Oft hat sie ihren Mann um 3 Uhr nachts an seinem Schreibtisch entdeckt, wie er E-Mails beantwortete und kein Ende fand. Sie weiß, dass er das Thema Pflege nie hinter sich lassen kann. Aber sie wünscht ihm, dass jetzt andere Themen daneben Platz bekommen. 30 Ordner darf er mit nach Hause nehmen, das hat sie ihm zugestanden. Weil sie weiß, was sie ihm bedeuten. „Er hat nie von Fällen gesprochen – es ging immer um die Menschen.“
Neulich kam Claus Fussek eine Idee, um das Dilemma mit den Ordnern zu lösen. „Vielleicht hat die Pflegewissenschaft Interesse daran – das sind ja wahre Geschichten, mitten aus unserer Gesellschaft.“ Er würde sich wünschen, dass diese vielen Schicksale wissenschaftlich aufgearbeitet werden. „Dann wäre das Leiden nicht ganz so sinnlos.“ Deshalb wird er die Ordner nun erst mal einlagern. Sollte er niemanden finden, der das angehen würde, wird er sie vielleicht versteigern. An Mitstreiter – und den Erlös für gute Pflegeeinrichtungen und Initiativen spenden.
Noch hat er die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er jemanden finden wird, der sich für diese traurigen Schicksale interessiert.
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